Sonntag. Julia hat im Herbst eine Art Bastelarbeit von Portugal mitgebracht, und Mina darf heute damit anfangen. Nachdem ihr Julia alles erklärt hat, nimmt Mina den dafür vorgesehenen Stift in die Hand, tunkt ihn in den Klebestoff und nimmt damit eine mikrokleine, flache Glasperle auf. Ganz vorsichtig und exakt setzt sie die Mini-Glasperle auf dem runden Korkuntersetzer im richtigen Feld ab. Ich staune! Selber werde ich nämlich schon beim Zuschauen kribblig. Nie im Leben würde ich die Ruhe und Geduld für so eine Arbeit aufbringen. Mina hingegen sitzt ganz vertieft da und konzentriert sich auf die wunderschönen Pastellfarben im Sonnenaufgang-Motiv, das sie nach Vorlage gestaltet.
Sagte ich eben ganz vertieft...?!? Kaum habe ich das Zimmer verlassen und will in der Küche ein neues Kochrezept ausprobieren, ruft Mina schon beim Lesen der dritten Zutat: "Mami, komm mal zu mir!" Seufzend kehre ich in Julias Zimmer zurück. "Schau mal, ich bin jetzt schon bei Farbe C, hier, siehst du diese vielen Säckchen? Mit denen muss man ganz vorsichtig sein..." Sehr interessant, denke ich leicht genervt, und gehe zurück in die Küche. Diesmal bin ich immerhin schon bei Zutat Nr. 7 angelangt, als Mina wieder durch die Wohnung kräht: "Mami, komm schnell, nun mach doch schon!" Ach so, ihr sind ein paar korallrote Glasperlen aus dem Schälchen gekullert, die sie nun wieder einräumen muss. "Dein Ernst, Mina, deswegen musste ich kommen?!"
Als ich drei Minuten später - nun beim Zusammensuchen der Zutaten - zum dritten Mal aus meiner Konzentration gerissen werde, platzt mir der Kragen und ich schimpfe: "Mina, jetzt hör endlich auf damit! Ich kann so nicht klar denken und mich auf nichts konzentrieren!" Mina hört zwar, was ich sage, aber sie schaut mich verständnislos an. Als ich langsam in die Küche zurück gehe, setzt auch mein traumapädagogischer Verstand ein, und ich überlege, was hier wohl gerade abläuft.
Morgen ist der erste Schultag nach den Weihnachtsferien, also ein Übergang für Mina. Übergänge sind für viele Menschen eine Herausforderung; für Mina als belastetes Pflegekind vielleicht noch einiges mehr als das. Und was würde Mina in diesem Fall brauchen, damit ihre innere Sicherheit wiederhergestellt wird? Richtig! Ihr Kuscheltuch, den Teddybär und eine erreichbare Pflegemutter... Noch gestern hätte das ganz anders ausgesehen, denn in den Ferien hatten wir das nie. Aber heute muss ich mich sozusagen auf Feld 1 zurückbegeben. Einmal leer schlucken muss ich schon, während ich meine Kochpläne für den Moment auf Eis lege. Aber ich weiss, das hilft am besten. Und siehe da, nachdem ich meine innere Haltung geändert habe, wird alles leichter: Mina beginnt sich zu entspannen und wir haben einen guten Sonntag miteinander. Den Sonnenaufgang bringt sie tatsächlich zu Ende. Und ich kann irgendwann auch mein Kochrezept ausprobieren.
Am ersten Schultag ist Mina richtig gut drauf. Auf dem Weg ins Badezimmer zieht sie den langen Schuhlöffel aus dem Schirmständer, macht einen krummen Rücken und setzt ein finsteres Gesicht auf. Dann stützt sie sich auf ihren "Stock" und humpelt so den Gang entlang. Ich muss laut lachen, denn Mina beherrscht die Alte-Frau-Pantomime perfekt. Schöner Tagesanfang, denke ich. Hat sich gelohnt, gestern auf Minas Bedürfnisse einzugehen. Weil sie heute so schnell vorwärts macht mit Anziehen, haben wir noch jede Menge Zeit bis zur Schule. Darum lasse ich Mina im Gang mit ihren Fingerboards spielen und gehe mich auch anziehen. Ich bin nur zwei Meter von Mina entfernt im Badezimmer. Trotzdem höre ich plötzlich eine voll gestresste Stimme fragen: "Mami, was ist jetzt dran?" "Jetzt ziehst du die Schuhe und die Jacke an, Mina, wie jeden Morgen," antworte ich leichthin.
Doch es ist schon zu spät: Mina liegt am Boden und schluchzt in einem schrillen Heulton, den ich nur zu gut kenne. Roter Zustand. Also alles stehen und liegen lassen, Kuscheltuch und Teddy holen und mich zu Mina auf den Boden setzen. Ich streiche ihr über den Kopf und sage: "Das war wohl keine gute Idee von mir wegzugehen, um mich anzuziehen. Ich hätte bei dir bleiben sollen." Langsam beruhigt sich Mina, und sobald die Krise überstanden ist, zieht sie ohne weiteres ihre Schuhe und die Jacke an und macht sich auf den Schulweg. Ich bleibe sinnierend zurück.
Was für ein zartes inneres Gleichgewicht unsere Pflegekinder doch haben... Auch zu viel Zeit am Morgen und Mina einfach spielen lassen kann offenbar einen unsicheren Zustand bei ihr hervorrufen. Obwohl sie mit dem Kopf eigentlich genau wusste, dass sie nur noch Schuhe und Jacke hätte anziehen brauchen, konnte sie plötzlich nicht mehr klar denken. Und das "nur", weil ich ein paar Minuten in etwas anderes vertieft war.
Das nächste Mal, wenn wir morgens viel Zeit haben, setze ich mich mit meiner Kaffeetasse und der Zeitung zu Mina auf den Boden, wenn sie spielt...
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