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Caroline

Der Ratalin-Tanz

Stellt euch vor: Letztes Wochenende war ich wieder weg für mich und habe es von Herzen genossen. Mit Minas Hilfe („Mami, du musst mein Handy hierlassen, wenn du weggehst“) hatte ich im Juni herausgefunden, dass meine Unerreichbarkeit für sie wohl das Bedrohlichste am Ganzen war. Und weil mich Mina nun mit unserem Festnetztelefon auch erreichen kann, wenn ich physisch abwesend bin, mache ich das jetzt öfters. Und tatsächlich, als ich nun am Sonntagabend heimkomme, ist Mina gut drauf und freut sich, mich zu sehen.


Obwohl, gut drauf… Für Mina scheint die Welt in Ordnung zu sein, was mich betrifft. Doch irgendetwas Merkwürdiges ist zwischen Mina und Romeo im Gange. Sie kommt mir ihm gegenüber feindselig vor, und er wirkt gestresst. Kein Wunder verschwindet mein lieber Mann schon bald im Arbeitszimmer und schliesst die Türe hinter sich. Jetzt ist er safe… Safe wovor? Ich habe keine Ahnung. Kennt ihr das? Ihr kommt in eine Situation hinein und spürt, dass die Stimmung zwischen eurem Pflegekind und der anderen Person angespannt ist.


Wenn ich es mir recht überlege, verhält sich Mina schon ziemlich seltsam: Sie holt ein paar Tictac-Bonbons mit Orangengeschmack aus ihrem Schulrucksack. Kennt ihr Tictacs? Die sind weiss und länglich. Doch statt die Bonbons in den Mund zu stecken, hält Mina sie hinter ihrem Rücken versteckt und geht damit zu unserem Vitamin-Schränkchen. Sie öffnet es und nimmt eine Pillendose hervor. Moment, das sind aber keine Vitamine! Das ist doch… Yasmin (21) muss bei ihrem Auszug im Sommer eine Dose mit ihrem Methylphenidat vergessen haben. Naja, sie hat ja auch ADHS:) Jedenfalls nimmt Mina nun den kleinen weißen Behälter in die Hand und tut so, als würde sie ihn öffnen und eine Tablette hervornehmen. Dann schreit sie laut: „Papa, hörst du, ich nehme jetzt Ratalin!!!“


Diese Mina-Kröte: Yasmins Tabletten sehen tatsächlich ähnlich aus wie Tictacs... Und jetzt versucht sie Romeo aus seinem Versteck hervorzulocken, indem sie ihn schockiert. Gespannt wartet sie auf eine Reaktion aus dem Arbeitszimmer. Als sich nichts rührt, schiebt Mina ihre Orangen-Tictacs in den Mund und schreit noch lauter: „Ich esse jetzt das Ratalin, das Ratalin, das Ratalin!!!“ Ich muss grinsen, denn der Tanz, den Mina dazu aufführt, sieht wirklich lustig aus und erinnert mich an eine Art Schlangenbeschwörung. Irgendwie finde ich es auch rührend, wie Mina durch ihre Provokation Kontakt zum „abwesenden“ Pflegevater sucht. Trotzdem spüre ich, dass sie angespannt ist und ganz fixiert auf die geschlossene Zimmertüre. Was sind nochmal die Verhaltensweisen im gelben Zustand? Richtig: Vermeiden, Realitätsverzerrung, Suchtverhalten und Kontrolle ausüben. Ich schätze, Mina will die Kontrolle über Romeo erlangen, indem sie ihn zu einer Reaktion zwingt. Wenn sie einfach so Tabletten isst, die nicht für sie bestimmt sind, MUSS er doch aus dem Arbeitszimmer gelaufen kommen, oder?!?


Da kribbelt es einem doch in den Fingern, herauszufinden, was schiefgelaufen ist zwischen Romeo und Mina. So eine Sachverhaltsanalyse zu erstellen, damit man wüsste, wer was gesagt und getan und was bei Mina was ausgelöst hat. Danach könnte man alles besprechen, die Missverständnisse beheben und die Beziehung zwischen Romeo und Mina wieder auf grün und entspannt stellen. Doch jetzt erinnere ich mich an die Traumapädagogik-Ausbildung: Immer wieder wurde thematisiert, dass Pflegeeltern nicht zu wissen brauchen, was der Ursprung der Belastung ihrer Pflegekinder ist, um traumasensibel mit ihnen umgehen zu können. Ich schätze, das Gleiche gilt auch für Gegenwartssituationen. Ja, aber wenn ich doch nur wüsste… Ja, Caroline, was wäre dann besser? Auch wenn ich auf alles eine Antwort hätte, wäre es doch für Mina ungleich viel wichtiger, einen Weg zu finden, der sie jetzt von ihrem „Ratalintripp“ runterbringt.


Das Abendessen ist vorbei, und ich bin müde von der Heimreise. Sich etwas hinlegen wäre jetzt himmlisch. Doch bis zu Minas Schlafengehen dauert es noch. Deshalb hole ich die Bettdecke aus ihrem Zimmer, breite sie vor ihr auf dem Boden aus und sage: "Was meinst du, wollen wir uns auf mein Bett legen und unter die Decken kuscheln? Und vielleicht noch einen Kinderfilm gucken vor dem Schlafengehen?" Mina lässt die restlichen Bonbons auf dem Tisch liegen und setzt sich auf die Decke. Soweit so gut. Bald liegen wir gemütlich nebeneinander auf dem Bett. Der Film läuft, Mina entspannt sich, und ich kann auch ausruhen.


Nein, ich weiss noch immer nicht, was zwischen Romeo und Mina vorgefallen ist. Und ich werde es wohl auch nie erfahren: Romeo erzählt, Mina sei ab Mittag gestresst gewesen und habe getriggert, sein Lieblingswort. Als ich Mina frage, was heute schiefgelaufen sei zwischen ihr und Papa, und weshalb sie gestresst gewesen sei, antwortet sie wie aus der Pistole geschossen: "Ich war überhaupt nicht gestresst, es war gar nichts. Aber er sagte die ganze Zeit zu mir: "Du bist gestresst, du musst dich beruhigen, du bist gestresst, du musst dich beruhigen. DAS hat mich gestresst!" Quod erat demonstrandum...


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