Letzten Montag war ich am Ende meiner Kräfte. Das Wochenende über hatte ich ausprobiert, für Mina durchgehend erreichbar zu sein. Die Idee aus einem Coachinggespräch war, am Wochenende beziehungsmässig "richtig in sie hineinzubuttern" in der Annahme, dass dies für Mina heilsam sein könnte. Ein weiterer Schritt zu unserem Ziel, als Familie schöne Zeiten zu haben. Das Einzige, was ich mir für mich selber als Erholung vorgenommen hatte, war, am Sonntagabend auszugehen. Und dies hatte ich Mina auch so angekündigt.
Doch ungefähr eine Stunde, bevor ich aus dem Haus gehen wollte, tickte Mina richtig aus. An ihren Augen sah ich, dass sie aus dem Hier und Jetzt in einen Tunnel von Damals und Dort gefallen war. Sie packte mich an den Haaren und wollte nicht mehr loslassen. Zusammen mussten wieder einen Weg zurück in die Gegenwart finden. Als sich Mina schliesslich beruhigt hatte, war es fast Zeit zu gehen. Doch nun begann sie herzzerreissend zu schluchzen und hielt meine Hand fest: "Du musst bei mir bleiben, Mami," weinte sie. Ich war hin- und hergerissen. Normalerweise kommt Mina gut damit klar, wenn ich weggehe, auch wenn es ihr nicht schmeckt. Mein Gefühl sagte mir aber, dass dieser Fall anders lag. Ich erinnerte mich an meinen Vorsatz, an diesem Wochenende für Mina durchgehend ansprechbar zu sein und antwortete deshalb: "Wenn du es brauchst, dass ich bei dir bleibe, dann mache ich das." Mina schien mir sehr, sehr erleichtert zu sein.
Doch am nächsten Tag hatte ich das Gefühl, an einem neuen Tiefpunkt in meinem Pflegemutter-Dasein angelangt: Ich hatte ein ganzes Wochenende in Mina investiert, und das war harte Arbeit gewesen. Trotzdem war sie einmal in den roten Bereich gefallen. Dass ich dann auch noch meine Verabredung am Sonntag Abend hatte sausen lassen müssen, liess mich nun komplett im Selbstmitleid versinken. Ich fühlte mich saft- und saft- und kraftlos und ausserstande, die neue Woche in Angriff zu nehmen. "Es hat alles nichts gebracht. Ich musste mich opfern und daheim bleiben, und trotzdem ist Mina ausgetickt. Wozu dieses ganze Investieren in ein Pflegekind? Ich fühle mich so ausgelaugt. Ich mag einfach nicht mehr." Kennt ihr dieses Gefühl, dass die ganze Energie mit einem Mal komplett aus euch herausausgesagt ist?
Und dann fand ich in einem Buch die Geschichte einer Frau, die mit ihrem kleinen Sohn auf der Schulter in der Wüste umherirrte. Als ihr Wasservorrat zur Neige ging, dachte sie, nun sei alles vorbei. Sie machte die Augen zu und wartete einfach ab. Als sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie einen Brunnen vor sich. Mit echtem Wasser, keine Fata Morgana. Die Frau schöpfte Wasser aus dem Brunnen, Mutter und Sohn tranken, und die Reise ging weiter.
Diese Geschichte ist meine Geschichte, dachte ich. Der Gedanke an einen Brunnen, der im richtigen Moment auftaucht, gab auch mir wieder Mut und Auftrieb. Ich merkte, dass der Moment gekommen war, um mir genau jetzt, mitten in der Woche, einfach frei zu nehmen. Die Bügelwäsche, den brösmeligen Fussboden einfach stehen zu lassen. Nicht zu wissen, was es zum Mittagessen geben würde. Egal. Zuerst musste ich wieder auftanken und mich erholen.
Am Nachmittag kam Yasmin nach Hause. Ich erzählte ihr, wie ich mich heute Morgen gefühlt hatte nach meinem Wochenendeinsatz, und das alles für die Katz. Yasmin ist diejenige unter unseren Töchtern, die gewöhnlich kein Blatt vor den Mund nimmt und ihre Meinung geradeheraus sagt. Sie hörte mir zu und sagte dann: "Mami, ich habe aber schon den Eindruck, dass es etwas gebracht hat, was du gemacht hast mit Mina am Wochenende. Vom Austicken abgesehen war sie innerlich ruhiger, und es ging ihr richtig gut. Das habe ich auch heute Morgen beobachtet. Am ersten Schultag nach den Ferien spinnt Mina doch sonst immer." Diese Worte, gerade aus Yasmins Mund, ermutigten mich sehr.
Unermüdlich Gutes ins Leben unserer Pflegekinder säen. Oft ohne sichtbare Früchte. Selber immer wieder auftanken und sich erholen. Sagen können, wie es uns wirklich geht. Mal alles stehen- und liegenlassen. Uns wieder Mut zusprechen. Nicht alles alleine tragen. Immer wieder Ausschau halten nach einem Wasserbrunnen im Alltag, und dann reichlich trinken. Das brauchen wir, um bei unserer Aufgabe als Pflegeeltern durchzuhalten. Mit Freude. Solange, wie es uns eben braucht.
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