Heute Samstag sind Mina und ich sind als Erste wach. „Mami, können wir den Smallfoot-Film zusamamen gucken?“, fragt Mina. Ist mir recht. In Ruhe auf dem Sofa liegen und langsam munter werden ist genau das Richtige für mich. Nach einer Weile erinnere ich Mina daran, dass sie heute Nachmittag Cevi hat, ein Erlebnisprogramm im Wald. Sonst geht Mina immer gerne. Doch heute zieht auf ihrem Gesicht Sturm auf. Ohoh… „Nein, ich mache mit meinen Freunden ab, hörst du?!“, schreit sie mich an. Roter Zustand. Ich bin ratlos. Ich habe ihr doch extra schon vor zwei Wochen gesagt, dass heute wieder Waldprogramm ist, und dass wir wollen, dass Mina diesmal auch geht. Letztes Mal machte Mina nämlich so Druck, sie wolle nicht gehen, sondern mit ihren Lieblingsfreunden spielen, dass wir nachgegeben haben. Aber Regeln und Grenzen müssen doch auch Pflegekinder lernen, oder? Nicht mein Lieblingsthema als Pflegemutter; besonders nicht, wenn ich auf so viel Widerstand stosse.
Zurück zu Mina. Sie nimmt nun ein frischgekochtes Ei in die Hand und droht mir: „Wenn du jetzt nicht sagst, dass ich nicht in die Cevi muss, werfe ich das Ei auf den Boden.“ Natürlich sage ich nichts. Mina macht ihr Drohung wahr und lässt das Ei zu Boden fallen. Eierschalen überall auf dem Boden verteilt. Wenigstens wars kein rohes Ei… „Du bist selber schuld, hörst du?“, ruft Mina, als ich betrübt auf die Eierschalen auf dem Boden gucke. Dann stapft sie zurück zu Smallfoot. Und was mache ich?
Eigentlich würde ich Mina gerne erklären, warum ich heute keine Ausnahme mehr machen will: Sie geht sonst auch, wir haben gerade den Jahresbeitrag bezahlt, es macht Sinn, verschiedene Freunde und Hobbys zu haben statt nur auf die gleichen zu setzen, es gut ist, seinen Freunden nicht nachzurennen, sondern auch mal nicht erreichbar zu sein, etc. Doch wenn Mina im roten Zustand ist, sind Erklärungen zwecklos. Ich überlege… Ok, wenn sie im roten Zustand ist, muss ich Mina zuerst stabilisieren, bis sie innerlich wieder ruhig ist. Und dass sie im roten Zustand ist, bedeutet wohl, dass ihr das, was ich gesagt habe, gründlich in den falschen Hals geraten ist.
Ich gehe zum Sofa und frage Mina: „Möchtest du, dass ich wieder zu dir aufs Sofa komme? Oder soll ich lieber wegbleiben? „Du kannst kommen, wenn du mich nicht nervst“, sagt Mina. Nur noch im gelben Zustand, würde ich sagen. Ich lege mich vorsichtig neben sie und sage: „Mina, vielleicht kommt es dir jetzt so vor, als wäre ich gegen dich und wollte ich dich von deinen Freunden fernhalten. Das verstehe ich. In echt habe ich dich aber mega lieb und will, dass es dir gut geht. Auch das mit der Cevi sage ich so, weil ich dich lieb habe. Ich möchte, dass es dir gut geht und du glücklich bist mit deinem Leben.“ Versuchsweise lege ich die Hand auf Minas Schulter und streiche ihr dann über den Rücken, als sie nicht wegrutscht. Mina kuschelt sich sogar ein wenig an mich. Gut, für den Moment zurück im grünen Bereich. Wir schauen den Film zu Ende.
Nach dem Abspann nehme ich Mina in die Arme und erkläre ich ihr, weshalb ich möchte, dass sie heute in die Cevi geht. Diesmal hört Mina zu. Ich füge hinzu, dass sie nach dem Waldprogramm gerne noch zu ihren Freunden darf. Das Einzige, was Mina dazu sagt ist, dass sie nun mit mir basteln will. Ich habe keine Lust zu basteln, aber ich spüre, dass sie immer noch angespannt ist. Nach einer halben Stunde sage ich: „Mina, du brauchst noch einen Cervelat für heute Nachmittag. Romeo geht nachher einkaufen. Was soll er dir sonst noch mitbringen für in den Rücksack?“ Das ist eine Infofrage, aber auch eine Erinnerung, dass Mina heute Nachmittag in den Wald gehen wird. Wie sie wohl darauf reagiert? Als sie ruhig antwortet: „Cervelat ist gut. Und kann ich bitte noch Delfinchips haben?“, weiss ich, dass sie die Cevi akzeptiert hat. Gut, aber dieser Vormittag hat mich viel Kraft und Nerven gekostet.
Während ich diese Zeilen schreibe, fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Wie war das noch mit Regeln und Grenzen, die auch Pflegekinder lernen müssen…? Genau: 3:1! Für jeden Satz Regeln und Grenzen braucht es drei Sätze Beziehungsaufbau. Also statt nur zu sagen: „Heute gehst du dann in die Cevi,“ hätten die drei Sätze, die ich nachher intuitiv für die „Reparatur“ des roten Zustandes gebraucht habe, von Anfang an dazugehört: „Mina, Ich habe dich lieb. Ich möchte das nur das Beste für dich und wünsche mir, dass es dir gut geht. ich schicke dich heute Nachmittag in die Cevi, weil ich weiss, dass es gut für dich ist, wenn du verschiedene Freundschaften pflegen kannst. Und nachher darfst du gerne noch mit deinen Freunden abmachen.“ Dann wäre Mina vielleicht gar nicht erst in den roten Zustand gefallen. Und ich hätte nicht den ganzen Vormittag mit ihr spielen und basteln müssen…

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