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Caroline

Guten Morgen

Aktualisiert: 22. Mai 2023

Es gibt etwas, das ich nicht ausstehen kann, und das ist, angeschrien zu werden. Noch schlimmer ist es, wenn ich gerade erwache und schon angeschrien werde. Dann ist es bei mir mit der traumapädagogisch vielgerühmten inneren Ruhe vorbei. In so einem Moment könnte ich aufspringen, die Übeltäterin packen und sie anschreien, sie solle sofort ruhig sein. Rein hypothetisch gesprochen natürlich. Nein, leider nicht...


Heute haben wir wie immer unsere Mittagsstunde gemacht. Weil Sonntag war, später als sonst. Das Ritual könnt ihr euch in etwa so vorstellen: Nach dem Essen kündige ich an, dass die Mittagsstunde bald beginnen wird. Wenn es dann soweit ist, gehe ich in Minas Zimmer, sage ihr, dass die Mittagsstunde jetzt beginnt, und stelle den Küchentimer auf 60 Minuten ein. Anfänglich deponierte ich den tickenden Wecker noch auf Minas Pult. Seit sie aber auf die schlaue Idee kam, den Timer schon nach ein paar Minuten auf null zurückzustellen, platziere ich ihn lieber auf dem hohen Regal im Gang draussen. Dann folgt der schöne Teil: Ich lege zu einem Nickerchen hin und schlummere selig vor mich hin. Danach bin ausgeruht und fühle mich dem Leben wieder gewachsen. Ausser heute.


Heute reisst Mina nach exakt 60 Minuten meine Zimmertüre auf und schreit: "Aufstehen, sofort aufstehen!" Das wiederholt sie im 15 Sekundentakt. Ich fühle mich wie in einem Alptraum, so schlaftrunken bin ich. Beim zweiten Mal sage ich: "Bitte hör auf zu schreien." Leider nützt das nichts. Mina wiederholt die Schreiattacken unbarmherzig, bis ich wirklich aufstehe, weil ich es nicht mehr aushalte. Ach du Schreck, das Schreien geht weiter und weiter. Ich flüchte aus dem Zimmer, doch das Schreien folgt mir von Raum zu Raum. Ich gehe zurück in mein Zimmer, schliesse die Türe und halte sie mit dem Rücken zu. Mina schlägt von aussen mit den Fäusten an die Tür und brüllt immer denselben Text: "Aufstehen, sofort aufstehen!"


Mittlerweile ist mir klar, dass Mina mindestens im dunkelgelben Zustand ist. Nur habe ich absolut keinen Schlüssel, was diesen Zustand verursacht haben könnte. Geht es euch auch so, dass ihr immer verstehen, begreifen, nachvollziehen wollt, was wozu geführt hat? Wir reden uns dann ein, wenn es nur möglich wäre zu rekonstruieren, was genau passiert ist, könnten wir besser mit der Situation umgehen. Doch manchmal ist das unmöglich. So geht es auch mir heute. Ich beginne daher nach dem Kuscheltuch und dem Teddy zu suchen, doch vergeblich: Beide sind unauffindbar. Das macht mich so wütend, dass ich die schreiende Mina packe und in ihr Zimmer stelle. Jetzt schreie ich auch: "Wenn du nicht aufhörst, mache ich gar nichts mit dir heute Nachmittag, hörst du?" Sehr wirkungsvoll, meine hilflose Drohung. Was nämlich folgt, ist eine noch grössere Eskalation: Mina dreht noch mehr auf, packt mich an den Haaren und reisst mit aller Kraft daran. Nun ist sie im roten Zustand und nicht mehr im Hier und Jetzt. Ich muss ihre Hände festhalten. In diesem Moment realisiere ich: Wir stecken wortwörtlich zusammen fest und müssen die Sache nun gemeinsam durchstehen. Mina dreht den Kopf und versucht mich zu beissen. Verzweifelt schreie ich: "Hör auf, hör einfach auf!"


Einen neuen Reiz setzen, schiesst es mir dann endlich durch den Kopf. Aber wie, und was? Da Kuscheltuch und Teddy unauffindbar sind, stelle ich den Fernseher an, um eine Kindersendung zur Ablenkung zu finden. Mina schreit: "Ich will nicht fernsehen, hörst du?!" Wieso muss ich in diesem Alptraum sein? Ich bin doch gerade erst aufgewacht, könnte ich nicht einfach sanft erwachen? Aber Selbstmitleid hilft mir jetzt auch nicht weiter. Ich gehe ich in die Küche und hole Minas Lieblingseissorte ("Würmliglacé, Mami, nur Würmliglacé!") aus dem Tiefkühler. Ich stelle das Eis in ein Plastikschälchen und stelle es neben den verschmähten Fernseher.

Dann ziehe ich mich in den Gang zurück und tue, als ob es mich nicht die Bohne interessieren würde, was Mina jetzt wohl macht. Durch den Türspalt beobachte ich, wie sie sich auf mein Bett setzt, das Eis in die Hand nimmt, daran schleckt und dann auf den Fernseher schaut. Endlich, Krise überstanden!


Ob ich herausgefunden habe, was schiefgelaufen ist vor der Schreiattacke? Keine Ahnung. Hätte mir aber auch nicht geholfen, die Situation heute zu entschärfen. Nicht die Bohne!









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